Zeitgenossen – Gemmas Verwandlung Band I

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Leseprobe

Prolog

Eigentlich war ich nicht zeitgemäß, ein wandelnder Anachronismus sozusagen. Doch da ich inzwischen über 400 Jahre alt war, hatte ich schon viele Zeiten erlebt, in die ich im eigentlichen Sinne nicht passte. Dabei sah ich für mein hohes Alter noch recht frisch aus, wie eine attraktive 25jährige. Das mag daran liegen, dass ich gerade mal Mitte 20 war, als ich erschaffen wurde.
Über das, was ich war (oder besser: was wir waren, denn inzwischen gab es etliche von uns), wurden irgendwann Bücher herausgebracht, später sogar Filme und Fernsehserien. Die frühen Werke schilderten uns als triebhafte und blutrünstige Bestien, die späteren Werke waren differenzierter, beschrieben uns als fühlende Wesen und räumten mit Mythen wie der Lichtempfindlichkeit und dem Schlafen in Särgen auf.
Ein Funken Wahrheit war in allen diesen Texten zu finden. Ein paar von uns waren blutrünstige Bestien, viele aber auch fühlende und mitfühlende Wesen. Einige waren beides. Die Widersprüchlichkeit unserer menschlichen Natur blieb uns auch nach unserer Verwandlung erhalten.

Unfreiwillig

Erschaffen wurde ich im Jahre 1599 in meiner damaligen Heimatstadt London. Elisabeth I. regierte das Land und Shakespeare feierte mit seinen Stücken Erfolge am Globe Theatre. Ich bekam von all dem aber damals noch nicht viel mit, da ich sehr zurückgezogen aufgewachsen war. Meine Mutter war eine Dienstmagd, die sich von dem Earl of Rutland schwängern ließ. Natürlich weigerte sich der Earl, mich offiziell als seine Tochter anzuerkennen, brachte mich aber bei einem kinderlosen älteren Ehepaar unter, das mir eine für die damalige Zeit umfassende Ausbildung zukommen ließ.
Mein Ziehvater hatte es als Apotheker zu bescheidenem Reichtum gebracht, da man seine Kräutermischungen und Heilpulver, die auch meine Ziehmutter mit großem Geschick herstellte, bei Hofe gerne orderte. Beide gaben mit Freude ihr naturkundliches Wissen an mich weiter, zumal ich mich als sehr wissbegieriges und lerneifriges Kind herausstellte. Meinen leiblichen Eltern bin ich indes nie begegnet. So wuchs ich ohne große Sorgen bei meinen Zieheltern auf und ging ihnen bei ihrem Tagesgeschäft zur Hand.
Eines Abends bat mich meine Ziehmutter, eine wichtige Lieferung Kalmus und Echten Schwarzkümmel vom Hafen abzuholen, die dort mit einem Schiff aus Portugiesisch-Indien angekommen war. Sie war nicht mehr sehr gut zu Fuß und mein Ziehvater war am Vormittag zu Hofe bestellt worden und noch nicht wieder zurückgekehrt.
Ich hatte den Apotheker schon oft zum Hafen begleitet und kannte den Weg daher im Schlaf. Mühelos bekam ich die bestellte Ware ausgehändigt. Es begann bereits zu dämmern und so machte ich mich schleunigst auf den Heimweg. Auch wenn ich den Hafen kannte, so war mir die Gegend dennoch nicht sonderlich geheuer, da sich gemeinhin allerlei Gesindel hier herumtrieb.
Prompt stellte sich mir ein zerlumpter Bettler in den Weg. »Na, meine Schöne!«, grölte er mir seine Whiskyfahne ins Gesicht und entblößte dabei sein immerhin noch aus drei Zähnen bestehendes Gebiss. Ich wich angewidert einen Schritt zurück. Plötzlich wurde der Bettler nach hinten gerissen und flog in hohem Bogen in den Dreck. Ich riss erstaunt die Augen auf und sah mich einem Edelmann gegenüber, dessen erlesene Kleidung und federgeschmücktes Barett auf einen hohen Stand schließen ließen. Hinter ihm standen fünf weitere nicht minder vornehm gekleidete Peers.
Der Edelmann beugte sich zu mir herunter und musterte mich anzüglich. Die Farbe seiner lodernden Augen ließ mich zurückschrecken. Vielleicht lag es ja an der untergehenden Sonne, aber sie waren irgendwie … rot.
»Tatsächlich eine unerwartete Schönheit an diesem unwirtlichen Ort«, murmelte er mit heiserer Stimme, während er mich weiterhin musterte.
Ich räusperte mich. »Ich bin Euch sehr dankbar für Eure Hilfe, Mylord, aber wenn Ihr mich nun vorbeilassen würdet …«
»Nicht doch!«, unterbrach er mich zischend und drängte mich gegen eine Wand. Auch seine fünf Begleiter waren plötzlich kaum mehr als zwei Zoll entfernt, dabei hatte ich gar nicht wahrgenommen, dass sie sich bewegt hatten.
Mir entglitt das Paket mit den wertvollen Kräutern und fiel in eine Dreckpfütze. Der rotäugige Peer griff mir in den Schritt. Ich schrie entrüstet auf und spuckte ihm ins Gesicht. Plötzlich verwandelte sich sein Gesicht in eine hasserfüllte Fratze. Er schlug mir ins Gesicht und der scharfe Schmerz wurde nur noch von dem Entsetzen überlagert, das mich ergriff, als er nach meinem Arm griff und seine Zähne hineinschlug. Ich verlor das Bewusstsein.

Schmerzen. Brennende Schmerzen. Mein ganzer Körper schien in Flammen zu stehen, obwohl er doch ganz offensichtlich in einer kühlen Schlammpfütze lag. Ein schemenhaftes Gesicht tauchte über mir auf. War es Gut oder Böse? Ich wusste es nicht. Es war mir auch egal. Solange nur jemand die Flammen löschte. Hände glitten über meinen Körper, schienen ihn nach Verletzungen abzutasten. Überall, wo sie mich berührten, wurde das Brennen heftiger. Ein unbändiger Schrei kroch meine Kehle hinauf. Ich wurde erneut ohnmächtig.

Ich schlug die Augen auf und sah einen dunkelblauen Baldachin, der mir gänzlich unbekannt war. Mir war heiß. Und meine Kehle brannte. Offenbar war ich krank gewesen und man hatte mich ins Bett gebracht. Aber in welches Bett? Ich lehnte mich hoch und sah mich um. Dies war definitiv nicht mein Zuhause. Meine Eltern hatten zwar auch teure Möbel, doch war ihr Haus längst nicht so raffiniert eingerichtet, wie dieses Zimmer.
»Und? Gefällt Euch, was Ihr seht?«, vernahm ich plötzlich eine wohlklingende Stimme mit belustigtem Unterton. Ich riss den Kopf herum und erblickte einen hochgewachsenen Peer, der mit lässig übereinandergeschlagenen Beinen in einem Lehnstuhl saß und mich mit amüsiertem Blick ansah. Er trug sein langes dunkles Haar zu einem Pferdeschwanz gebunden und sein Gesicht hatte eine fast raubtierhafte Attraktivität.
»Wer seid Ihr? Und wo bin ich?«, entfuhr es mir fast ein wenig unfreundlich. Er stand auf und machte eine spöttische Verbeugung.
»Gestatten: Giles Montgomery, vierter Viscount Arlington. Und dies ist mein bescheidenes Heim.« Er wies auf die Räumlichkeiten. »Und mit wem habe ich das Vergnügen?«
Ich starrte ihn an. Seine amüsiert glitzernden Augen hatten einen faszinierenden Farbton. Einerseits erschienen sie nachtblau, andererseits schimmerten sie wie Opale. »Gemma«, antwortete ich langsam, »Gemma Winwood.« Unwillkürlich griff ich mir an den Hals. Meine Kehle brannte immer noch fürchterlich.
Das Gesicht des Viscounts verdüsterte sich plötzlich. »Hast du Durst?«, fragte er. Ich nickte matt, verwirrt von dem abrupten Stimmungswechsel. »Ich gebe dir etwas.« Er setzte sich auf den Bettrand und reichte mir einen schweren Silberbecher. Ich trank gierig daraus, wobei ich immer noch auf sein unergründliches Gesicht starrte. Die Flüssigkeit löschte auf köstliche Weise meinen brennenden Durst. Nachdem das stärkste Brennen gemildert war, setzte ich den Becher kurz ab, um neugierig nachzuschauen, welches Getränk mir so wohltuend Linderung verschafft hatte.
Ich erstarrte vor Entsetzen. Es war Blut. Ich trank Blut!
Mit einem heiseren Aufschrei schleuderte ich den Becher von mir, dessen tiefroter Inhalt sich über den schweren Teppich ergoss, und starrte den Viscount hasserfüllt an. »Was soll das?«, presste ich zwischen den Zähnen hervor. »Haltet Ihr das für witzig?«
Er sah mich mitfühlend an. »Es ist das, was du jetzt brauchst«, antwortete er ruhig.
Was sollte das nun wieder? Wie konnte ich Blut brauchen? Ich sah ihn misstrauisch an. Er seufzte und nahm behutsam meinen Arm hoch. Ich blickte darauf und sah die Vielzahl punktförmiger Doppelnarben. »Sie werden mit der Zeit blasser«, sagte Arlington leise. Ich starrte immer noch auf die Narben. Mir fielen die Schmerzen wieder ein. Das höllische Brennen. Der Peer mit den roten Augen und seine Begleiter.
Ich sah Arlington an. Sein gemeißeltes Gesicht. Der unergründliche Blick aus den nach wie vor schimmernden Augen. Keuchend stürzte ich aus dem Bett und fand mich vor der verschlossenen Tür wieder, nicht begreifend, wie ich in dem riesigen Raum so schnell hierhin gelangen konnte.
»Gemma!«, hörte ich die warme Stimme Arlingtons bittend hinter mir.
Gehetzt drehte ich mich um. »Ihr seid einer von denen!«, stieß ich hervor.
»Nein, das bin ich nicht!«, erwiderte er sanft, aber eindringlich.
»Warum schließt Ihr mich dann ein?«, fauchte ich.
»Um dich zu schützen.«
»Wovor?«
Er griff nach einem Handspiegel auf einer Kommode. »In erster Linie vor dir selbst«, antwortete er leise.
Ich blickte in den Spiegel. Ich kannte meine ebenmäßigen Züge, die mir nie sonderlich interessant vorgekommen waren, obgleich sie jetzt seltsamerweise feiner und erhabener schienen. Aber das war es nicht, was mich mit eisigem Grauen erfüllte. Es waren meine glutroten Augen, die mir in dem Spiegel entgegen starrten. Rot wie die Augen des Peers am Hafen.
Ich wartete. Wartete, dass die Ohnmacht mich wieder umfing und wie das schützende Dunkel der Nacht vor diesem Grauen bewahrte. Doch ich verlor das Bewusstsein nicht. Ich musste das Grauen ertragen.
»Was haben sie mit mir gemacht?«, fragte ich tonlos.
Arlington sah mich mit seinem unergründlichen Blick an. »Ich musste eingreifen«, erklärte er dann fast ebenso tonlos. »Es hätte dich sonst getötet.«
Hasserfüllt blickte ich ihn an. »Ihr wart das?«
Arlington sah mich ruhig an. Sein Blick schien fast um Verständnis zu bitten.
Ich hatte kein Verständnis. Ich fegte durch das Zimmer wie eine Furie, zerstörte jeden Gegenstand, jedes Möbelstück, das ich in die Finger bekam. Arlington sah mir ruhig dabei zu, der Verlust seiner Einrichtung schien ihn nicht zu kümmern. Dennoch lag eine leise Trauer in seinem Blick. Ich rüttelte und zerrte auch an der Tür, doch diese schien das Einzige zu sein, das ich nicht kaputtmachen konnte.
Schließlich drehte ich mich zu Arlington um. Ich hasste ihn, aber ich wollte auch mehr wissen, wollte das Unfassbare begreifen.
»Was ist mit mir geschehen?«, fragte ich mit gezwungen ruhiger Stimme.
Arlington erklärte es mir. Er erklärte mir, dass die Peers am Hafen Vampire waren, und dass es ihnen egal gewesen war, in welchem Zustand sie mich hinterließen. Er erklärte mir auch, dass er zwar von derselben Art wie die Peers war, nur dass er sich entschlossen hatte, einen anderen Weg einzuschlagen. Ich erfuhr, dass nun auch ich zu derselben Art gehörte und entscheiden musste, welchen Weg ich einschlagen wollte.
Ich begriff, dass ich ohne die Intervention Arlingtons bereits tot wäre, vielleicht war ich es ja sowieso auf eine gewisse Art und Weise. Arlington machte mir auch begreiflich, dass die mir bevorstehende Entscheidung die Schwerste meines Lebens sein könnte und dass ich möglicherweise immer wieder mit ihr hadern würde. Ich ahnte, dass er recht hatte, denn ich verspürte erneut den brennenden Durst in meiner Kehle und es erfüllte mich mit Grauen, dass es der Durst nach Blut war.
Wieder loderte ein Schmerz in mir. Doch diesmal war er nicht körperlich. Ich wusste, dass sich jetzt alles ändern würde. Ich wusste auch, dass ich meine Zieheltern nie mehr wiedersehen würde. Doch ich wusste nicht, was mir alles bevorstand.

Arlington hielt mich auch in den nächsten Tagen in dem Zimmer gefangen. Mir war klar, dass er es tat, damit ich nicht zur Mörderin wurde. Dennoch hasste ich ihn dafür. Ich hasste ihn auch, weil er mich zu dem gemacht hatte, was ich war. Vielleicht wäre der Tod doch die bessere Alternative gewesen.
Arlington sorgte dafür, dass ich ständig Nachschub an Blut erhielt. Ich wusste mittlerweile, dass es Tierblut war. Es löschte zwar meinen Durst, dennoch kehrte das Brennen in der Kehle nach einiger Zeit immer wieder zurück. Ich fragte mich, ob das ewig so weitergehen sollte.

Doch wider Erwarten fühlte ich mich nach einigen Tagen ruhiger. Das Brennen in meiner Kehle war noch da, aber es beherrschte nicht mehr mein ganzes Denken. Auch mein Hass und meine Wut schienen sich ein wenig abgekühlt zu haben. Da mein Geist wieder etwas klarer wurde, fiel mir auf, dass es noch so viel gab, das ich wissen musste.
Arlington betrat den Raum und bemerkte meinen fragenden Blick. Er sah mich prüfend an.
»Es geht dir besser«, stellte er fest.
Ich nickte nur.
»Und du hast Fragen«, fügte er hinzu.
Ich nickte erneut.
Seinen Mund umspielte ein amüsiertes Lächeln und er machte es sich auf einem Lehnsessel bequem, den er nach meiner Zerstörungsorgie in das Zimmer gebracht hatte.
»Nun denn«, er machte eine einladende Geste und schlug die Beine übereinander, »was möchtest du wissen?«
Ich musterte ihn eine Weile lang. Dann begann ich:
»Wie kann ich meinen Durst stillen, ohne Menschen zu verletzen?«
»Du wirst Tiere jagen. Welches Wild du bevorzugst, wirst du schnell herausfinden.«
Ich sah ihn skeptisch an. »Ich habe kein Talent zum Jagen.«
Er blinzelte belustigt. »Jetzt schon.« Er wies auf das Schlachtfeld der zerstörten Einrichtung, das ich im Raum hinterlassen hatte und welches von ihm nur notdürftig aufgeräumt worden war.
»Wie werde ich Menschen widerstehen können?«, fragte ich.
Sein Gesicht wurde wieder ernst. »Keine Angst. Das werden wir trainieren.«
Ich schwieg.
»War das alles?«, fragte er forschend.
»Nein.« Ich zögerte. »Warum habt Ihr mich nicht im Hafen liegen lassen? Und warum helft Ihr mir?«
Arlington sah nachdenklich aus dem Fenster. Dann lächelte er mich spöttisch an. »Dein Tod wäre solch eine Verschwendung gewesen. Und ich hasse Verschwendung.«
Ich biss die Zähne zusammen. »Dann sagt mir noch eines«, knurrte ich, »kennt Ihr die Peers, die mir dies angetan haben?«
Er sah nachdenklich auf seine gepflegten Finger. »Ja.«
»Und wer sind sie? Wo finde ich sie?«
Er lächelte mich herablassend an. »Das muss dich nicht interessieren.«
»Ich will es aber wissen!«, fauchte ich und stürzte mich auf ihn.
Ich weiß nicht genau, was ich vorgehabt hatte, zumindest hatte ich nicht erwartet, mich auf dem Boden wiederzufinden, während der Viscount mit seinem Gewicht meine Arme und Beine festhielt.
»Das ist auch etwas, was wir trainieren müssen«, sagte er stirnrunzelnd, »dein Temperament zu zügeln.«
Triumphierend bemerkte ich, dass es ihm offenbar gewisse Mühe bereitete, mich in Schach zu halten.
Dann stellte ich fest, dass sein Gesicht nur ein paar Fingerbreit über meinem schwebte. Er hatte unverschämt lange Wimpern. Mein Widerstand erlahmte. Arlington bemerkte es und ließ mich los.
Verärgert stand ich auf. »Also?«, fragte ich.
»Also was?«, erwiderte Arlington, der auch wieder aufgestanden war.
»Wer sind diese Peers und wo finde ich sie?«
Arlington seufzte gelangweilt. »Nun, offen gestanden: Sie sind tot.«
Ich riss überrascht die Augen auf. »Alle?«
»Ja, alle.«
»Aber wie …? Habt Ihr sie getötet?«
Er sah mich kalt an. »Keine weiteren Fragen«, erwiderte er und verließ den Raum.

Ende der Leseprobe

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